Betrachte die Welt mal anders.
„Big Data“, IT-gestützte Modellierungen sowie bioarchäologische Methoden gelten als Merkmale einer „3rd Science Revolution“ in der Archäologie. Fragen, die die Forschung seit langer Zeit beschäftigen, lassen sich mit diesen Methoden neu in den Blick nehmen. Das Landesmuseum Hannover ist an einem internationalen Forschungsprojekt beteiligt, das die Migration im frühen Mittelalter in Nordwesteuropa mit bioarchäologischen Methoden untersucht. Die Ergebnisse sind spektakulär: Ähnlichkeiten in den im Projekt sequenzierten Genomen belegen Migrationsbewegungen zwischen dem Europäischen Kontinent und den Britischen Inseln ab dem 6. Jahrhundert.
Bereits seit langer Zeit werden naturwissenschaftliche Analysen in die archäologische Forschung integriert. Den größten Einfluss hatte wohl die Entdeckung der Radiokohlenstoffdatierung Mitte des 20. Jahrhunderts. Anhand des Zerfalls von Kohlenstoffisotopen lässt sich zurückrechnen, wann ein Organismus verstorben ist. Dies macht sich die Archäologie für die Altersbestimmung zu nutze. Durch einen regerechten Boom an Analysemöglichkeiten im Bereich der Biowissenschaften lassen sich ganz neue Informationen aus archäologischen Quellen gewinnen. Wieder stehen hier die organischen Überreste im Vordergrund. An Skelettfragmenten lassen sich die Ernährungsweise oder die Mobilität von Individuen rekonstruieren. Auch die nahezu komplette Sequenzierung alter DNA aus erhaltenen Knochen gelingt mittlerweile und versorgt uns mit einer Fülle an Informationen zu den Menschen der Vergangenheit.
Die Frage nach der angelsächsischen Migration beschäftigt die Forschung seit dem Mönch Beda, der Ende des 8. Jahrhunderts von der Migration verschiedener Gruppen ins heutige England berichtete. Insbesondere auch wegen der Ähnlichkeiten von kulturellen Ausdrucksformen im 6. Jahrhundert – vor allem Schmuck und Keramikformen – zwischen dem heutigen Niedersachsen und dem nachrömischen Ostengland diskutieren auch Archäolog*innen seit mehr als 75 Jahren über dieses Thema. Ein Projekt, das von Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Universität Lancaster angestoßen und in Kooperation mit zahlreichen Partner*innen durchgeführt wurde, nahm sich dieser Fragestellung durch die Analyse der Genome von über 400 Individuen von den Britischen Inseln und dem Kontinent an. In diese Probenserie waren auch zahlreiche Individuen aus Bestattungsplätzen aus der Sammlung des Landesmuseums Hannover (u. a. aus den Gräberfeldern Liebenau, Issendorf, Hemmingen-Hiddestorf und Hannover-Anderten) integriert.
Seit seiner Gründung von vor 170 Jahren sammelt, bewahrt und erforscht das Landesmuseum Hannover Kulturgüter der Vergangenheit. Bei archäologischen Ausgrabungen werden mittlerweile neben den »schönen« Objekten auch sehr viel unscheinbarere Funde entnommen und archiviert. Wurden zu Beginn der Wissenschaft häufig nicht einmal menschliche Überreste aufbewahrt, wird mittlerweile eine große Bandbreite an Proben gesammelt. Heute erlauben uns genau diese Funde die Rekonstruktion der damaligen Umwelt und Lebensbedingungen des Menschen.
Das Forschungsprojekt zeigt nun, dass etwa 75 % der untersuchten frühmittelalterlichen Population in Süd- und Ostengland Migranten waren, deren Vorfahren aus Regionen vom Kontinent stammen (Niederlande, Norddeutschland und Dänemark). Die Ergebnisse aus den Gräberfeldern in England belegen aber gleichzeitig die Komplexität der Vorgänge im Nordseeraum. Denn es gab sowohl Gemeinschaften, die eine umfassende Integration praktizierten als auch Gemeinschaften, bei denen sich »Alteingesessene« und » Neuankömmlinge« noch unterscheiden lassen. Unser Blick auf das Europa nach dem Ende des Weströmischen Reichs war lange Zeit von vielen Vorannahmen gekennzeichnet. Die rekonstruierten Geschichtsbilder der sog. »Völkerwanderungszeit« sind bis heute vielfach eher schlicht und unterschiedlicher politischer Vereinnahmung ausgesetzt. Die realen historischen Prozesse wurden indes in den letzten Jahrzehnten deutlich vielschichtiger diskutiert.
Die Ergebnisse des Forschungsprojektes belegen nun Migrationsereignisse zwischen den Britischen Inseln und dem Kontinent auf genetischer Ebene und zeigen dabei auch, dass Migration stets ein komplexer Vorgang ist und im Frühmittelalter möglicherweise auch in beide Richtungen des Ärmelkanals erfolgte. Die genetischen hard facts sprechen also nicht aus sich heraus, und auch schon damals zählte für ein »wir« viel mehr als bloße genetische Verwandtschaft. Die neu gewonnenen Informationen erweitern vor allem die Diskussion um eine wichtige Perspektive und werden Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein.
Die Veröffentlichung zur Studie (auf Englisch) findet Ihr hier: https://www.nature.com/articles/s41586-022-05247-2