Betrachte die Welt mal anders.
Der Übergang von der Lebensweise als Jäger und Sammler hin zur Ernährung durch Ackerbau und Viehzucht (die »Neolithische Revolution«) ist der wahrscheinlich wichtigste Einschnitt in die menschliche Lebensweise. Nach 2 Millionen Jahren in denen Menschen sich durch Jagen, Sammeln und Fischfang ernährten, ermöglichte es die neue, bäuerliche Wirtschaftsform, Nahrung gezielt zu produzieren, mehr Menschen zu versorgen und Überschüsse zu speichern.
Durch diesen Jahrtausende währenden, hochkomplexen Prozess wurden die Grundlagen für eine Lebensart geschaffen, die sich bis zur Industriellen Revolution nicht wesentlich änderte.
Die Folgen sind bis heute spürbar. Ohne die Neolithische Revolution würden wir heute nicht in Städten wohnen, hätten vermutlich andere Familien- und Verwandtschaftsstrukturen und würden uns nicht von domestizierten Tieren und Pflanzen, die wir selbst züchten und durch diesen Vorgang verändert haben, ernähren.
Die Neolithische Lebensweise ist das Ergebnis eines langwierigen und komplexen Prozesses, der im 10. und 9. Jahrtausend v. Chr. im Fruchtbaren Halbmond stattfand. Damit bezeichnet man die halbmodförmige, sehr fruchtbare Region entlang südwestasiatischer Flüsse, in der die heutigen Staaten Israel, Jordanien, Libanon, die palästinensischen Autonomiegebiete, Syrien, Irak und Teile der Türkei und des Irans liegen. Die Gründe sind bis heute in der Forschung nicht abschließend geklärt. Neben dem Vorkommen der Wildformen unserer heutigen domestizierten Tiere, Getreide und klimatischen Faktoren scheint vor allem eine neue Ideologie (»Religion«) ausschlaggebend gewesen zu sein. Die besten Belege dafür bietet der berühmte, vom deutschen Archäologen Klaus Schmidt ausgegrabene, Kultplatz Göbekli Tepe, in der Nähe der modernen Stadt Urfa, dem antiken Edessa, in der Türkei.
Erst nachdem menschliche Gruppen ihr Verhältnis zu Tieren und Pflanzen neu definiert hatten, und vor allem die Tierzucht, die anfangs immer wieder von Rückschlägen geprägt war, gemeistert hatten, konnte sich die neue Wirtschaftsform durchsetzen. Sie verbreitete sich im 7. und 6. Jahrtausend über Anatolien und den Balkan ins Karpatenbecken und von dort nach Mitteleuropa.
Die letzte Etappe der Neolithisierung, nämlich deren Ausbreitung in die norddeutsche Tiefebene, kann in Niedersachsen an eindrucksvollen Fundplätzen erforscht werden. Sie ist aber nicht nur aufgrund der exzellenten Erhaltungsbedingungen von Interesse für die Forschung, sondern weil hier verschiedene Kulturen regelrecht aufeinanderprallen.
Die eingewanderten Ackerbauern der Linienbandkeramik ließen sich auf den sehr guten Lössböden im Raum Hannover, im Braunschweiger Land und im westlichen Harzvorland nieder, und wie neueste Entdeckungen zeigen sogar in vereinzelten Enklaven weiter nördlich. Dort trafen sie auf komplexe Jäger-Sammler-Fischer Gesellschaften, die von der Forschung nach zwei Fundorten in den Niederlanden und Dänemark als Swifterbant-Kultur und Ertebølle-Kultur bezeichnet wurden.
Vereinzelte Objekte der Ackerbauern, vor allem Steinbeile, wurden bis weit in den Norden, zum Teil bis nach Skandinavien, getauscht, jedoch konnte sich die neue Wirtschafts- und Lebensweise erst sehr viel später im Norden durchsetzen.
Neueste Ergebnisse der Paläogenetik zeigen stattdessen dass regelrechte »Parallelgesellschaften« von Bauern auf der einen und Jäger-Sammler-Fischer-Clans auf der anderen Seite entstanden. Diese beiden Welten bestanden selbst noch über tausend Jahre nachdem die ersten Bauern sich in Niedersachsen niedergelassen hatten! Das heisst. höchstwahrscheinlich haben selbst die Nachfahren der Bauern, die vielleicht gar nicht mehr wussten, woher sie ursprünglich kamen, ihre nördlichen Nachbarn als »fremd« wahrgenommen, und dass obwohl sie regelmäßig miteinander handelten und sich austauschten.
Einer der wichtigsten Fundplätze aus dieser Zeit befindet sich im Landesmuseum Hannover und wird in den MenschenWelten ausgestellt: Die Moorsiedlung »Hüde I« am Dümmer gelegen.
»Hüde I« liegt genau im Schnittpunkt beider Welten und erlaubt es so Archäologen nachzuvollziehen, wie technische Innovationen aus dem bäuerlichen Süden, wie z.B. Töpfe aus Keramik mit besonderer Dekoration, lokal umgesetzt wurden. Darüber hinaus kann in »Hüde I« ein außergewöhnlicher Prozess beobachtet werden, denn wenngleich man die neolithische Lebensweise im Norden zunächst eben nicht übernahm, bildet sich zwischen 4200 und 4000 vor Christus doch an vielen Orten ein offenbar eigenständiges von lokalen Jäger-Sammler-Fischern entwickeltes Neolithikum heraus, dass bis heute den Norden prägt. Denn diese Menschen bestatten ihre Toten in Kammern aus gewaltigen Findlingen, die bis heute in der Landschaft sichtbar sind, und als Großstein- oder Megalithgräber bezeichnet werden (früher auch »Hünengräber«).
Dr. Florian Klimscha, Kurator Archäologie
Immer auf der Suche nach den ersten Jedi in der Bronzezeit!