Flüstern in den Regalen – Ein Erfahrungsbericht

Temidayo Oyeniran und Loana Oyeniran sind Kuratoren und Künstler und beschäftigen sich mit Ausstellungskonzepten, die neue Sichtweisen auf Kunst und Kultur ermöglichen. Temidayo Oyeniran arbeitet aktuell als wissenschaftlicher Volontär am Landesmuseum Hannover. Loana Oyeniran arbeitet als wissenschaftliche Volontärin am Arp Museum Bahnhof Rolandseck. Vorbereitend zur Kabinettausstellung »Flüstern in den Regalen«, verbrachten beide eine intensive Zeit im ethnologischen Depot des Landesmuseums Hannover, um Begegnungen zwischen ihnen und den Sammlungsobjekten entstehen zu lassen.

Das Foto zeigt Temidayo Oyeniran im ethnologischen Depot. © Temidayo Oyeniran

Hörst du das Flüstern?

In vielen Museen befinden sich nur wenige Objekte der Sammlungen in den öffentlich zugänglichen Ausstellungsräumen. Der Großteil bleibt in den Depots verborgen. Aber auch diese Objekte haben Geschichten zu erzählen.

Als Mitarbeiter*in eines Museums hat man eher Zugang zu dessen Depot als andere Menschen. Aber allein der Zugang zu den mit Objekten gefüllten Lagerungsräumen reicht nicht aus, um den Objekten wirklich zu begegnen. Es ist von ganz entscheidender Bedeutung, mit welcher Einstellung und Offenheit man durch die Depots geht und wie man die darin aufbewahrten Objekte betrachtet. Erst dann kann man möglicherweise ihre geflüsterten Geschichten hören.

Einblicke in das ethnologische Depot des WeltenMuseums. © Loana Oyeniran

Begegnungen im Depot

Im ethnologischen Depot des Landesmuseums, in welchem etwa 25.000 Objekte – größtenteils in verglasten Regalen – lagern, gibt es einen Bereich mit Objekten aus dem asiatischen Raum. Unter anderem stehen dort Porzellanarbeiten: bemalte Tassen und Schalen, kunstvoll gearbeitete Kästchen und Vasen. Manche weisen Verzierungen auf, die Blumen zeigen, an anderen haften aus Porzellan geformte Tierkörper. Innerhalb eines der Regale stehen zwei Tassen. Es sind kleine, henkellose Teetassen.

Als wir vorbereitend zur Ausstellung durch das Depot gingen, fielen uns diese Tassen auf. Sie besitzen eine besondere Ausstrahlung und haben etwas an sich, das uns innehalten ließ. Die zwei Tassen sind sich in ihrer äußeren Erscheinung sehr ähnlich. Auf den ersten Blick sind sie sehr schlicht und unscheinbar, glasiert in einem gedeckten Mischton aus Grau und Grün, durchzogen mit sandfarbenen Schlieren. Sieht man aber genauer hin, erkennt man rote Farbspritzer in der Glasur, die den Tassen etwas Verspieltes verleihen. Wir haben die Tassen intensiv betrachtet, jeden kleinen Punkt und Farbfleck genau angesehen. Wir haben versucht, in der Betrachtung zu versinken und in die Tassen einzutauchen. Wir kamen den Tassen sehr nahe – mehr gedanklich und emotional als physisch. Wir haben gespürt, wie eine Verbindung entstand.

Ganz rechts im Bild: Die beiden Tassen, deren Flüstern Temidayos und Loanas Interesse geweckt hat. © Loana Oyeniran

In diesen Momenten fühlt es sich an, als würde man den Objekten spirituell begegnen. Auf unterschiedliche Arten und Weisen flüstern die Objekte einem dann zu. Manchmal ist es ein Flüstern, das man als innere Stimme in den eigenen Gedanken hört. Manchmal ist es ein unbestimmtes Gefühl, das sich intuitiv in Worte übersetzt. Manchmal sind es Vibrationen, die sich durch den Raum oder den eigenen Körper bewegen. Auf solch unterschiedliche Weisen kann man mit Objekten in Kommunikation treten.

Als wir vor den Tassen standen, schien es uns, als würde eine Geschichte in unserem Inneren erzählt. Es fühlte sich an wie eine Stimme, die im Schlaf sacht ins Unterbewusstsein dringt. Die zwei Tassen sprachen lautlos, aber doch wahrnehmbar. Ob sie diese Worte an uns richteten oder einfach in das Depot hinaussendeten, können wir nicht beurteilen. Aber als sie ihre Geschichte erzählten, verstanden wir, dass die beiden Tassen Brüder sind. Entstanden am gleichen Tag, geformt durch die gleichen Hände. Während sie ihre Geschichte erzählten, sagten sie etwas ganz Entscheidendes. Sie sagten, dass sie Individuen seien. Keine Objekte.

Aus dem Regal ins Rampenlicht

Ihre Aussage wurde zu einem grundlegenden Gedanken für das Konzept unserer Ausstellung und unserer weiteren Suche nach den Geschichten, die das ethnologische Depot des Landesmuseums Hannover bereithält. Wir begreifen die Objekte in den Regalen nicht länger als Gegenstände, sondern verstehen sie als Individuen. Als lebendige Wesen und Geister, die denken und fühlen, die ihren eigenen Charakter haben und mit uns in Kommunikation treten können.

 

Die Begegnungen mit den Objekten notierten Loana und Temidayo Oyeniran auf Karteikarten.

Wir hörten und spürten noch viele weitere Geschichten, Gedanken und Gefühle anderer Individuen in den Regalen des Depots. So unterschiedlich die Begegnungen mit diesen Individuen waren, so unterschiedlich wollten wir sie in der Ausstellung präsentieren. Manche der Geschichten schrieben wir in unseren eigenen Worten auf. Manche Gedanken nahmen wir in Bruchstücken mit unseren eigenen Stimmen auf. Manche Individuen zeigen wir anhand von Fotografien – zu sehen sind darauf nicht nur die Individuen selbst, sondern auch die Regale und die Lagersituation im Depot. Eine kleine Anzahl von Individuen ist in einer Vitrine ausgestellt. Vielleicht können so auch andere Menschen ihre geflüsterten Geschichten hören.

Die Ausstellung »Flüstern in den Regalen« ist von Januar bis zum Ende Juli 2022 in den WechselWelten zu sehen.