Betrachte die Welt mal anders.
»Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen« sage ich mir, als mein Spiegelbild mir mit aufgemaltem Schnurrbart und Nudelsieb auf dem Kopf entgegenschaut – und drücke auf den Auslöser.
Der »besondere Umstand« von dem ich hier spreche, ist natürlich die Corona-Pandemie, die Deutschland, Europa, die Welt schon seit Wochen fest im Griff hat. Auch die Kunst bleibt davon nicht verschont – das Landesmuseum Hannover hat, genau wie alle anderen Museen und Ausstellungshäuser in Deutschland, seit nunmehr bereits sechs Wochen geschlossen. Sechs Wochen in denen die Menschen nicht in unser Haus kommen können, um die Werke von Rubens, Riemenschneider und Botticelli im Original zu bewundern. Sechs Wochen, in denen es unsere Aufgabe ist dafür zu sorgen, dass unsere Besucher*innen uns trotzdem nicht vergessen.
Der einzige Weg, auf dem das aktuell möglich ist, ist das Internet. Kulturvermittlung über Facebook, Twitter und Instagram. Aber wie übersetzt man Alte Kunst in die Neuen Medien? Wie kreiert man Content, der gleichzeitig Spaß macht, universell verständlich ist und auch noch Neugier auf das Original weckt? Denn bei einem sind wir uns schließlich einig: Ziel des Ganzen ist es natürlich, die Menschen für einen Museumsbesuch zu begeistern, sobald dies wieder möglich ist. Es stellt sich heraus, dass die Antwort auf diese Frage gar nicht neu ist, sondern nur neu interpretiert werden musste.
Schon Goethe beschreibt in seinem Roman »Die Wahlverwandschaften« von 1809 die Tradition der »Lebenden Bilder« – auch bekannt als Tabelaux vivants. Dabei werden Gemälde durch lebendige Personen zu Unterhaltungs-, aber auch zu Bildungszwecken möglichst detailgetreu nachgestellt.
Die weltweiten Ausgangsbeschränkungen haben diese zugegebenermaßen etwas in Vergessenheit geratene Kunstform nun wiederbelebt. Es heißt, die Amerikaner waren die ersten, die zur Tat schritten – inspiriert von dem privaten Instagram-Account einer WG aus Connecticut rief das Getty-Museum in Los Angeles Ende März via Twitter dazu auf, die Zeit zuhause zu nutzen, um selbst kreativ zu werden: Mithilfe von drei Haushaltsgegenständen sollte das persönliche Lieblingskunstwerk nachgestellt und anschließend gepostet werden. Die Fangemeinde war begeistert und es dauerte nicht lange, bis der Trend auch nach Europa schwappte. Die kreativsten Ergebnisse werden von dem niederländischen Account »@tussenkunstenquarantaine« gesammelt, der auch uns schließlich inspirierte, in Aktion zu treten.
Denn in unseren Köpfen war die Idee, unsere Sammlung durch nachgestellte Bilder zu »ehren« schon lange präsent – im Tagesgeschäft hatten dafür allerdings immer die Zeit und der konkrete Anlass gefehlt. Nun aber fühlten wir uns ermutigt und von den großartigen, lustigen und kreativen Beiträgen aus der ganzen Welt bestärkt – und gingen selber ans Werk.
Und was soll ich sagen – wer hätte gedacht, dass Arbeit so viel Spaß machen kann. Schon die Auswahl der Motive wurde zum großen Spektakel. Beim Schlendern in der Ausstellung, Stöbern im Depot und Wälzen von Katalogen sah man die Kunst plötzlich mit ganz anderen Augen. Gibt es da eine Ähnlichkeit zu mir? Wie könnte ich das umsetzen? Warum wurde gerade diese Pose gewählt? Und natürlich auch: Welche Geschichte steckt hinter dem Bild, und wie lässt sie sich in die aktuelle Situation übersetzen?
Und dann die Auswahl der Requisiten. Da wurde jede Schublade ausgeleert, Memorabilia und Haushaltsgegenstände in neue Kontexte gestellt, Kleidung aus dem Schrank des Partners geklaut, genäht, getackert und geklebt. Das Ergebnis wird kritisch begutachtet und optimiert bis es »perfekt« ist – nicht im Sinne einer detailgetreuen Kopie, sondern als ironisch gebrochene Neuinterpretation eines Klassikers.
Als wir die ersten Bilder veröffentlichen, sprechen die positiven Reaktionen für sich. Und das Schönste: Obwohl der Niedersachse an sich erfahrungsgemäß nicht so begeisterungsfähig ist wie der Amerikaner, lassen sich erste Kollegen, Freunde und Fans von unserer Begeisterung anstecken und machen mit.
Die Mühe hat sich also gelohnt, wir starten voller Motivation in eine neue Runde und planen die nächste Kopie. Der Schnurrbart, das Nudelsieb – ihr erinnert euch? Kurz vor dem veröffentlichen, vor dem Teilen des eigenen Konterfeis mit potentiell Millionen fremder Menschen, kommt dann doch noch einmal ein kurzer Moment des Zweifels: Mache ich mich hier vielleicht gerade – vorsichtig ausgedrückt – ein kleines bisschen lächerlich? Egal! Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen.
Haben Sie auch Lust auf eine eigene Neuinterpretation unserer Gemälde? Schicken Sie uns gerne Ihre Fotos an kommunikation@landesmuseum-hannover.de oder verlinken Sie uns in Ihrem Beitrag. Das Team des Landesmuseums Hannover freut sich auf alle kreativen Ideen!
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Liste der nachgestellten Kunstwerke: